TU Dresden entwickelt weltweit einzigartigen hochimmersiven Fahrsimulator zum szenarienbasierten Testen automatisierter Fahrfunktionen und für die optimale Mensch-Maschine-Interaktion.

Einsteigen ins Auto, zurücklehnen und sich von A nach B bringen lassen. Die Rede ist vom (teil-)automatisierten Fahren. Weltweit arbeiten die Automobilbranche und ihre Forschungspartner:innen an neuen Technologien und Funktionen für das automatisierte Gefährt der Zukunft. Lange ging es dabei nur um den technischen Fortschritt. Doch je autonomer die Maschinen werden, desto nachhaltiger wandelt sich die Rolle der Fahrenden. Dadurch rückt ein weiterer Aspekt in den Fokus: der Mensch und seine Interaktion mit automatisierten Fahrzeugen bzw. Fahrzeugfunktionen. Bei der Mensch-Maschine-Interaktion trifft Hochtechnologie auf menschliche Gefühle und instinktives Handeln. Was braucht es also, damit dieses Mensch-Maschine-Zusammenspiel in Zukunft möglichst effizient, kooperativ und unmissverständlich bei Übergabesituationen zwischen dem automatisierten Fahrzeug und den Fahrenden funktioniert – im alltäglichen Verkehr, aber speziell auch in kritischen Situationen und Unfallszenarien? 

Hochimmersiv: Virtuelle Welt wird (gefühlt) zum realistischen Fahrszenario 

Hier setzt der neue und technisch weltweit einzigartige selbstfahrende hochimmersive Fahrsimulator der Technischen Universität Dresden (TU Dresden) an. Sein innovatives Konzept ermöglicht ganz neue und hochrealistische Simulationsszenarien und damit erstmals eine realistische Wahrnehmung des Fahrzeugverhaltens durch die Test-Fahrenden. In seinem Innern werden die Fahrer:innen in realistische Fahrsituationen versetzt, inklusive des Empfindens der Beschleunigung und Richtungsänderung. Hierfür steht der aus dem Bereich virtuelle Realität kommende Begriff „hochimmersiv“: gemeint ist das fachsprachliche „Eintauchen“ der Nutzenden in die virtuelle Realität, so dass diese vom Bewusstsein als real empfunden wird. Das können bisherige Fahrsimulatoren nur bei wenigen Manövern bieten.

Die große Bedeutung des Projektes für die Weiterentwicklung des automatisierten Fahrens spiegelt sich auch in der Millionen-Förderung durch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) wider. Bundesminister Andreas Scheuer: „Mit unserem neuen Gesetz zum autonomen Fahren haben wir bereits einen Riesenschritt Richtung Zukunft gemacht: Erstmals können wir selbststeuernde Fahrzeuge ganz regulär auf die Straße holen – als erstes Land weltweit. Damit setzen wir international Standards. Doch auch die Forschung prescht voran: Der Fahrsimulator der TU Dresden ermöglicht ein ganz neues, realistisches Erleben von Fahrmanövern. Dadurch lassen sich Übergabesituationen zwischen Mensch und Maschine lebensecht erproben und verbessern – gerade in kritischen Situationen oder sogar bei Unfällen. Die 7 Millionen Euro, die das BMVI hier investiert, sind bestens angelegtes Geld."

Um realistische Reaktionen der Fahrenden zu gewinnen und Ableitungen für die Interaktion von Mensch und Maschine zu ziehen, muss der Simulator ein hohes Immersionsempfinden erzeugen. Die Informationen aus der wirklichkeitsgetreuen Nachbildung von Fahrmanövern in sicherheitskritischen Fahrsituationen fließen in die Weiterentwicklung von Technologie und Sicherheit autonomer Fahrfunktionen ein. „Durch die erstmals realistische Wahrnehmung des Fahrzeugverhaltens wird der neue Fahrsimulator die Entwicklung von automatisierten Fahrzeugen revolutionieren“, ist sich Prof. Dr.-Ing. Günther Prokop, Leiter der Professur für Kraftfahrzeugtechnik der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ an der TU Dresden, sicher. Er und sein Team entwickeln in Kooperation mit der AMST-Systemtechnik GmbH aus Österreich das Hightech-Fahrzeug. Ein weiterer Partner und Anforderungsgeber ist die FSD Fahrzeugsystemdaten GmbH aus Dresden. Zudem unterstützt die Porsche AG als Kooperationspartner der TU Dresden das Projekt mit einem Fahrzeugcockpit für den hochimmersiven Fahrsimulator. Am 17. September 2021 übergaben Vertreter der Porsche AG das Cockpit an Prof. Prokop und sein Team – ein weiterer wichtiger Meilenstein für das Projekt.

Projektphasen: Ab Mai 2022 Inbetriebnahme in Dresden 

Die Arbeit an dem mit seiner Konstruktion weltweit einmaligen innovativen Gefährt hatte im Januar 2019 begonnen. Aktuell nimmt der Simulator bei der AMST seine physische Form an – sprich die Einzelteile werden gebaut und zusammengefügt sowie Komponenten weiterer Projektpartner integriert. Im Frühjahr 2022, so der Plan, soll er nach Dresden kommen. „Und dann beginnt die spannende Phase der Inbetriebnahme“, berichtet Dr.-Ing. Thomas Tüschen, Projektleiter sowie wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kraftfahrzeugtechnik der TU Dresden. Denn, auch wenn das Gefährt im Mai 2022 zusammengebaut vor dem Projektteam in Dresden steht, wird es doch noch einige Monate dauern, bis die ersten Testpersonen ins Cockpit einsteigen dürfen. „Innerhalb der Inbetriebnahme müssen wir noch zahlreiche Tests und Einstellungen vornehmen. Erst wenn alles sicher ist, kommen die Proband:innen hinzu“, so Tüschen. 

Auf Reifen statt auf Schienen – einfache Idee mit großer Wirkung 

Wer die Abbildungen des 5x5x5 Meter messenden Fahrsimulators der TU Dresden mit anderen Fahrsimulatoren weltweit vergleicht, dem fallen die Reifen und verschiedenen Bewegungsachsen auf. Durch die Räder kann sich der Fahrsimulator auf einer Bewegungsfläche von 70x70 Metern bei entsprechenden trockenen Wetterbedingungen in alle Richtungen bewegen. Dazu erklärt Herbert Pinwinkler, Projektleiter auf Seiten der AMST: „Der Fahrsimulator bewegt sich mit seinen 10 Bewegungsfreiheitsgraden frei auf der Ebene und ist im Gegensatz zu den meisten anderen Simulatoren kein gebundenes, auf Schienen montiertes System.“ Er betont, worauf es beim hochimmersiven Fahrsimulator ankommt: „Eine ausgeklügelte sowie performante Leichtbauweise und Bewegungssteuerung verbunden mit einer realitätsnahen virtuellen Außensicht sollen Sinneseindrücke vermitteln, die von denen im Fahrzeug nicht zu unterscheiden sind. So kann der Fahrer ganz in die Simulation eintauchen.“  

Laut Herbert Pinwinkler ist die Entwicklung und Herstellung des Fahrsimulators ein Highlight in der Firmengeschichte der AMST: „Das Projekt ist eine Herausforderung, die wir gerne angenommen haben. Es gibt uns die Möglichkeit, unser Know-how in der Simulation von Luftfahrzeugen auf Straßenfahrzeuge zu übertragen und weiterzuentwickeln.“ 

Realistische Schleuder- und Unfallszenarien für sichere Fahrautomatisierungsfunktionen 

Das innovative System ermöglicht ganz neue Anwendungsfelder für die Fahrsimulation: „Durch die geringen bewegten Massen des Systems ist die Simulation sehr dynamischer Manöver, bis hin zu Schleudervorgängen ohne Wahrnehmungsverfälschung bei den Proband:innen möglich. Es lassen sich Unfallentstehungsmechanismen in sicherer Umgebung hochrealistisch erforschen und die Wirkung von Fahrerassistenzsystemen zur Unfallvermeidung oder -mitigation optimieren“, erklärt Thomas Tüschen. 

Durch die hohe Dynamik des Systems ist im Unfalleinlauf auch die Zeitspanne zwischen „loss-of-control“ (Kontrollverlust), „point-of-no-return“ (unumkehrbarer Punkt) und „t0“ (erster Moment des Aufpralls) realistisch simulierbar. Der menschliche Faktor ist bei solchen Szenarien ausschlaggebend. „Mit unserem hochimmersiven Fahrsimulator können wir das nun sehr real untersuchen und die Mensch-Maschine-Schnittstelle methodisch und systematisch gestalten“, sagt Prof. Günther Prokop und verweist auf die Bedeutung des Projektes: „In der Entwicklung entsteht ein mächtiges Werkzeug zur Absicherung von Fahrautomatisierungsfunktionen. Forschungsseitig wird mit dem hochimmersiven Fahrsimulator die Weiterentwicklung menschlicher Verhaltensmodelle vorangetrieben. In Fahrdynamik, Fahrkomfort und Fahrbarkeit wird der Dresdner Fahrsimulator neue Möglichkeiten eröffnen, bereits sehr früh anhand objektiver Maßstäben zu beurteilen, wie sich das Fahrzeug ,anfühlen‘ wird.“ 

Projekt-Steckbrief

PROJEKTVOLUMEN: knapp 12 Millionen Euro, davon 7 Millionen Euro Fördermittel des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI)

TECHNISCHE DATEN:

- Maße: 5x5x5 Meter

- Bewegungsfläche von 70x70 Metern bei einer bewegten Masse von ca. 4.500 kg

- Beschleunigungen von 10 m/s² (vergleichbar mit Vollbremsung)

- 10 Bewegungsfreiheitsgrade

- Hochvariables, frei ansteuerbares Fahrzeug Mockup

- 220° Projektionsleinwand

- Transportables, mobiles System

ANWENDUNGSFÄLLE:

- Entwicklung/ Absicherung automatisiertes und assistiertes Fahren

- Objektivierung von Fahrdynamik und Fahrkomfort

- Mensch-Maschine-Interaktion

- Forschung Bewegungswahrnehmung

- Medizinische/Psychologische Untersuchungen (Berufs-)Fahrende

Hochimmersiver Fahrsimulator

https://www.youtube.com/watch?v=B5H4WgSbudE

Ansprechpartner TU Dresden

Dipl.-Ing. Stefan Plaettner
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Forschungsbereich Fahrsimulator
Professur für Kraftfahrzeugtechnik
Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List", TU Dresden
E-Mail: stefan.plaettner@tu-dresden.de

In der Entwicklung entsteht ein mächtiges Werkzeug zur Absicherung von Fahrautomatisierungsfunktionen. Forschungsseitig wird mit dem hochimmersiven Fahrsimulator die Weiterentwicklung menschlicher Verhaltensmodelle vorangetrieben. In Fahrdynamik, Fahrkomfort und Fahrbarkeit wird der Dresdner Fahrsimulator neue Möglichkeiten eröffnen, bereits sehr früh anhand objektiver Maßstäben zu beurteilen, wie sich das Fahrzeug ,anfühlen‘ wird.

Prof. Dr.-Ing. Günther Prokop, Leiter der Professur für Kraftfahrzeugtechnik der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ an der TU Dresden