Wie sich der Kontakt zwischen Passagieren beim Ein- und Aussteigen ins Flugzeug reduzieren lässt, untersucht der Dresdner Verkehrswissenschaftler Dr. Michael Schultz.

Einer der wenig erforschten Bereiche während der Pandemie ist die Auswirkung von COVID-19 auf den Flugzeugbetrieb und die Passagierabfertigung während des Ein- und Aussteigens. Dr. Michael Schultz, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Professur für Technologie und Logistik des Luftverkehrs an der Fakultät Verkehrswissenschaften "Friedrich List" der TU Dresden, hat in Zusammenarbeit mit Universitäten und luftfahrtbezogenen Einrichtungen in Nordamerika und Europa umfangreiche Forschungsarbeiten zu diesem Thema durchgeführt.

Stochastische Simulationsumgebung für unterschiedliche operative Szenarien

In einem Übersichtsartikel ("COVID-19: Passenger Boarding and Disembarkation", Sep. 2021) werden die erzielten Ergebnisse seiner eineinhalb-jährigen Forschungsarbeiten zur effizienten Passagierabfertigung in der Flugzeugkabine unter Pandemie-Bedingungen zusammengefasst. Hierbei wurden wesentliche Methoden entwickelt und Verfahren optimiert, um Kontakte und COVID-19-Infektionen unter den Passagieren zu vermeiden. "Beim normalen Boarding gibt es eine beträchtliche Anzahl möglicher Übertragungswege, wenn ansteckende Passagiere anwesend sind", sagt Dr. Schultz. Er und die beteiligten Wissenschaftler:innen nutzten eine stochastische Simulationsumgebung, um das Bewegungsverhalten von Passagieren und das Ausbreitungsrisiko in unterschiedlichen operativen Szenarien zu analysieren und zu optimieren. Ein neu entwickeltes mathematisches Modell berücksichtigt dabei auch Zielkonflikte zwischen niedrigen Prozesszeiten und geringen Ansteckungsrisiken. Prinzipiell wurden die Verteilung der Sitzplätze innerhalb der Kabine und die hiermit einhergehende Ein-/Ausstiegsreihenfolgen optimiert. Die Ergebnisse zeigen, dass mit einer verbesserten Sitzplatzzuweisung eine Reduzierung des Transmissionsrisikos um 90 Prozent zu erwarten ist und gleichzeitig auch die Prozesszeiten nachhaltig verkürzt werden können.

Start mit Transmissionsmodells und Bewertung allgemein angewendeter Verfahren

Ein weiterer Übersichtsartikel beschreibt die schrittweise Entwicklung der Forschungsarbeiten, welche mit der Entwicklung eines Transmissionsmodells und der Bewertung von allgemein angewendeten Verfahren Anfang 2020 begann (Evaluation of Aircraft Boarding Scenarios Considering Reduced Transmissions Risks). Durch grundlegende Modellbetrachtungen zu individuellen Mindestabständen und Übertragungswahrscheinlichkeiten wurden erste Vorschläge zur Verfahrensverbesserung aufgezeigt. So konnten durch spezifische Einstiegsverfahren und die Reduktion von Passagierinteraktionen in der Kabine (bspw. durch die Reduktion des Handgepäcks) die Virusübertragung minimiert und Einstiegszeiten der pre-COVID Zeit erreicht werden. Jedoch zeigte sich, dass gerade auch das Aussteigen aus der beengten Kabine mit einer erhöhten Übertragungswahrscheinlichkeit einhergeht.

Interview "Wall Street Journal": Weniger Handgepäck = weniger Übertragungsrisiko

In dem hierzu erschienenen Interview im renommierten "Wall Street Journal" weist Michael Schultz darauf hin, dass eine zufällige Reihenfolge beim Einsteigen, bei der die Passagiere nicht alle gleichzeitig in denselben Reihen sitzen, besser wäre, um eine mögliche Übertragung zu reduzieren. "Wichtig wäre es auch, die Anzahl an Handgepäckstücken einzuschränken, damit nicht ein Passagier versucht, etwas in ein Gepäckfach zu schieben, während er über einem sitzenden Passagier atmet. Eine Verringerung des Handgepäcks allein, kann das Übertragungsrisiko schon um etwa 75 Prozent senken“, wird er zitiert. Er verweist auch darauf, dass die Fluggesellschaften als Vorsichtsmaßnahme die Ein- und Ausstiegsverfahren so gestalten, dass die Passagiere im Freien über das Rollfeld gehen und nicht in schlecht belüfteten Fluggastbrücken. "Leider entscheiden sich Fluggesellschaften zumeist nicht für die in wissenschaftlichen Studien bereits erfolgreich getesteten Ansätze", so Michael Schultz.

Ganzzahliges, lineares Optimierungsproblem durch genetischen Algorithmus gelöst

Aus diesem Grund entschieden sich die Forscher um Dr. Michael Schultz zusätzliche, realitätsnahe Annahmen in weiteren Untersuchungen zu berücksichtigen. Zum einen wurden die Auswirkungen von (sich selbst organisierenden) Passagiergruppen auf die optimierte Sitzplatzverteilung und den Verlauf des Einsteigens analysiert (Analytical approach to solve the problem of aircraft passenger boarding during the coronavirus pandemic), zum anderen stand das Aussteigen der Passagiere im Vordergrund der wissenschaftlichen Forschung (Optimized aircraft disembarkation considering COVID-19 regulations). In beiden Fällen wurde unter Berücksichtigung möglicher Transmissionen unter den verschiedenen Passagiergruppen ein ganzzahliges, lineares Optimierungsproblem aufgestellt und durch einen genetischen Algorithmus gelöst. Zusätzlich zu den bereits vorhandenen Erkenntnissen konnte gezeigt werden, dass durch die Berücksichtigung von Gruppenverhaltensweisen sowohl die Prozesszeiten (um 40 Prozent) als auch das Übertragungsrisiko (um 85 Prozent) minimiert werden können. Aktuell sind die Ergebnisse eines weiteren Forschungsbeitrages in Begutachtung, bei dem die Aspekte der Handgepäckverteilung in der Kabine in die Optimierungsverfahren eingebunden wurden.

Unterstützung von assoziierten Forschungsbereichen

Mit diesen Forschungsergebnissen konnten auch wesentliche Beiträge für die zukünftige Bodenabfertigung von Flugzeugen geliefert werden (Future aircraft turnaround operations considering post-pandemic requirements). Hier hat Dr. Schultz zusammen mit Kolleg:innen des Institutes für Luftfahrt und Logistik der TU Dresden und der University of New South Wales, Australien, aufgezeigt, welcher zusätzliche Ressourcenbedarf notwendig ist, um den pandemischen Anforderungen in Zukunft gerecht werden zu können. Als Ergebnis steht fest, dass trotz Optimierung und erweitertem Ressourceneinsatz die Bodenzeiten um bis zu 10 Prozent länger dauern werden. Gerade bei eng getakteten Flugverbindungen hätte dies einen weitreichenden Einfluss auf das gesamte Luftverkehrsnetzwerk.

Grundlagen für eine vernetzte Flugzeugkabine geschaffen

Das Einhalten von Mindestentfernungen zwischen Gruppen und Personen ist in den vorangegangenen wissenschaftlichen Untersuchungen als Voraussetzung angenommen worden. Jedoch ist in der Realität die genaue Bestimmung der Position der Passagiere innerhalb der Flugzeugkabine eine große technologische Herausforderung. In enger Kooperation mit der Professur für Informationstechnik für Verkehrssysteme an der TU Dresden wurden die Anforderungen aus operativer Sicht und die Möglichkeiten neuer technologische Verfahren gegenübergestellt (Evaluation of Technology-Supported Distance Measuring to Ensure Safe Aircraft Boarding during COVID-19 Pandemic). Mit dieser Publikation wurden die notwendigen Grundlagen für eine vernetzte Flugzeugkabine geschaffen. Die Funkausbreitungssimulation innerhalb einer 3D-modellierten Flugzeugkabine sowie die in der Kabine stattfindenden operativen Prozesse wurden zusammengeführt, sodass die nächsten Forschungsarbeiten in einer gesamtheitlichen Modellierungsumgebung durchgeführt werden können.

Forschungsergebnisse auf internationaler Bühne

Im September 2021 nahm Dr. Michael Schultz mit drei wissenschaftlichen Beiträgen am internationalen Seminar für Forschung und Entwicklung im Bereich Flugverkehrsmanagement (ATM R&D) teil, einer Veranstaltung, die gemeinsam von der Federal Aviation Administration und EUROCONTROL organisiert wird. Diese Seminare finden alle zwei Jahre abwechselnd in den USA und in Europa statt und haben sich zur wichtigsten Veranstaltung für ATM-Forscher entwickelt. Die ATM-F&E-Seminare sind besonders wichtig angesichts der Notwendigkeit, Lösungen zu vereinbaren und zu entwickeln, die von globaler Bedeutung sind und SESAR, NextGen und andere internationale Programme umfassen.

Die Seminare fördern die internationale Zusammenarbeit, schaffen und verstärken Beziehungen zwischen führenden ATM-Experten und -Forschern weltweit und ermutigen zu Diskussionen und Konsens in wichtigen Fragen.

Weitere Informationen dazu unter: https://www.atmseminar.org/

Aircraft boarding under COVID-19 constraints (50% seat load)

https://www.youtube.com/watch?v=UsJ-OqHmElQ

Video über Simulationen zum Boarding von Flugzeugen unter COVID-19-Bedingungen (mit 50% Sitzauslastung). Referenzfall mit einer alternierenden Sitzanordnung und einer zufälligen Einsteigefolge.

Michael Schultz und Majid Soolaki. Analytischer Ansatz zur Lösung des Problems des Einsteigens von Fluggästen während einer Coronavirus-Pandemie. Transportation Research Part C: Emerging Technologies Band 124, März 2021, 102931

Optimized aircraft group boarding under COVID-19 constraints

https://www.youtube.com/watch?v=yJOxlvTgN8Y

Optimierte Lösung zum Boarding von Flugzeugen unter COVID-19-Bedingungen sowohl für die Sitzverteilung als auch für die Einstiegsreihenfolge: Unter Berücksichtigung der räumlichen Abstände zwischen den Passagiergruppen (z. B. Familien oder Paare) konnte die Einsteigezeit um 59 Prozent verbessert und das Übertragungsrisiko beim Einsteigen um 84 Prozent reduziert werden.

Dr.-Ing. habil. Michael Schultz

Porträt eines Mannes mit kurzrasiertem Haar, in Anzug und Hemd
© IFL

Priv.-Doz. Dr.-Ing. habil. Michael Schultz, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Technologie und Logistik des Luftverkehrs der Fakultät Verkehrswissenschaften "Friedrich List", TU Dresden, beschäftigt sich mit der Effizienz von Luftverkehrssystemen. Dabei konzentriert er sich auf datengesteuerte (maschinelles Lernen) und modellbasierte Ansätze (Simulationen).

Aktuell forscht er insbesondere zum dynamischen, flugzentrierten Management des Luftraums (Streckenflug, Flughafennahbereich, urbane Luftmobilität), zur Kapazitätskoordination zwischen Flughäfen und zum leistungsorientierten Flughafenbetrieb (luft- und landseitig).

E-Mail: michael.schultz@​tu-dresden.de