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Interview
Dr. Binbin Liu nimmt an dem von der TU Dresden angebotenen Senior Fellowship Programm teil. In sechs Monaten, aufgeteilt in zwei Blöcke, arbeitet er an einem Forschungsprojekt an der Professur für Schienenfahrzeugtechnik. Wir haben ihn zu seinen Erfahrungen während seines ersten Aufenthalts an der TUD zwischen Januar und März 2024 befragt.
Dr. Binbin Liu arbeitet als leitender Forscher am Polytechnikum von Mailand, Italien, wo er 2016 mit Auszeichnung über die Untersuchung der Dynamik von Schienenfahrzeugen und des Rad-Schiene-Kontakts promovierte. Sein Forschungsprojekt im Rahmen des Stipendiums zielt darauf ab, einen schnellen Ansatz zur Schätzung der Verschleißverteilung über die Rad-Schiene-Kontaktfläche zu entwickeln, der sich für die Integration in die Simulation der Dynamik von Schienenfahrzeugen eignet. Im Rahmen der Zusammenarbeit soll eine neue Berechnungsmethode zur Abschätzung des Radverschleißes entwickelt werden. Langfristiges Ziel des Projekts ist es, ein schnelles und zuverlässiges Radverschleißmodell für praktische Anwendungen zu entwickeln, das zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen und industriellen Kooperationen führen wird.
Diehl (D): Herzlich willkommen an der Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“!
Sie sind in China aufgewachsen und haben dort studiert. Anschließend haben Sie in Italien promoviert und sind seitdem an der dortigen Universität als Postdoc und Assistenzprofessor tätig. Was hat Sie motiviert, sich für das Stipendium an der TU Dresden zu bewerben?
Dr. Binbin Liu (L): Meine akademische Reise hat mich von China nach Italien und nun auch nach Deutschland geführt. Meine Motivation, mich für das Senior Fellowship an der TU Dresden zu bewerben, beruht auf dem akademischen Ruf der Universität. Die TU Dresden ist bekannt für ihren starken Forschungsfortschritt und ihr hervorragendes akademisches Umfeld, insbesondere für die Ingenieurwissenschaften. Daher reizte mich der Aspekt, mich in einem aktiven und dynamischen Umfeld der Spitzenforschung zu bewegen. Deshalb habe ich diese Wahl getroffen.
D: Auf welche Bereiche konzentrieren Sie sich bei Ihrer Forschung?
L: Ich beschäftige mich hauptsächlich mit der Dynamik, insbesondere mit der Dynamik von Schienenfahrzeugen, sowie mit dem Rad-Schiene-Kontakt und den Zug-Gleis-Interaktionen, und allem im Zusammenhang mit Eisenbahnsystemen. Außerdem beschäftige ich mich mit der Anwendung semi-aktiver oder aktiver Technologien für die Konstruktion, Verbesserung oder Optimierung von Federungssystemen von Schienenfahrzeugen.
D: Worum geht es bei Ihrem Forschungsprojekt im Rahmen des Fellowships und was sind die Ziele?
L: Wir haben einen allgemeinen Rahmen für die Forschungstätigkeit, die wir durchführen werden. Das allgemeine Thema dieses Projekts für das Fellowship ist die Entwicklung eines numerischen Werkzeugs für die Abschätzung von Schienen- bzw. Radverschleiß. Die Herausforderung besteht darin, den Verschleiß, der kein kurzfristiges Phänomen ist, unter dem Gesichtspunkt der Simulation zu betrachten. Unser Ziel ist es, ein schnelles numerisches Werkzeug zu entwickeln, das den tatsächlichen Verschleiß vorhersagen kann und auch in der Lage ist, ihn in die mehrstufige Simulation zu integrieren, was eine sehr effiziente Methode wäre. Wir hoffen, dass Eisenbahningenieure mit unseren Erkenntnissen in der Lage sein werden, Instandhaltungsstrategien zu optimieren. So wissen sie, wann die Schiene repariert werden muss oder ob andere Dinge getan werden müssen, um die Qualität auf einem optimalen Niveau zu halten. Durch die Anwendung dieses Ansatzes haben wir die Möglichkeit, die Instandhaltungskosten zu senken und gleichzeitig die Sicherheit des Netzes zu verbessern.
D: Sie haben in der Vergangenheit mehrere Preise und Ehrungen für Ihre Forschung erhalten. Auf welche Themen haben Sie sich in Ihrer Forschung konzentriert? Wissen Sie, ob diese Ergebnisse in der Wissenschaft oder in der Industrie weiterverwendet wurden?
L: Meine Hauptforschungsaktivitäten befassen sich mit der Fahrzeugdynamik, wobei wir uns auf die Entwicklung von Werkzeugen und Methoden in der Eisenbahntechnologie konzentrieren. Meine Forschung ermöglicht die Zusammenarbeit mit Softwareentwicklern, insbesondere für den Bahnsektor. Ich weiß, dass eines unserer Modelle in ein kommerzielles Software-Paket implementiert wurden, die von der Öffentlichkeit weithin genutzt werden. Ein weiteres Programm ist bereits in einem Labor von einem unserer kooperierenden Unternehmen implementiert. Im Allgemeinen können wir also sagen, dass es industrielle Anwendungen für unsere Modelle und Strategien gibt.
D: Was fasziniert Sie an Verkehr und Mobilität im Allgemeinen?
L: Mobilität und Infrastruktur faszinieren mich, weil sie einen großen Einfluss auf unsere Gesellschaft, Wirtschaft und die Umwelt haben. Die richtige Art des Transports hat geringere Auswirkungen auf unsere Umwelt, was ebenfalls eine sehr wichtige Eigenschaft ist. Außerdem wissen wir, dass die Eisenbahnsysteme hochkomplex sind, da sie die Lösung verschiedener Bereiche erfordern, einschließlich der Integration verschiedener technischer Disziplinen. Die mit dem System verbundenen Probleme sind daher recht anspruchsvoll und erfordern innovative Lösungen in einem ziemlich großen Forschungsbereich.
D: Sie sind in China aufgewachsen und leben seit einiger Zeit in Italien. Wie unterscheiden sich die chinesischen Verkehrssysteme von den europäischen?
L: Aus meinen Erfahrungen kann ich einige Unterschiede nennen. Zum Beispiel ist das chinesische Verkehrssystem durch seine hohe Bevölkerungsdichte gekennzeichnet. In Europa ist das System nachhaltig und verläuft oft in dicht besiedelten städtischen Gebieten. Außerdem ist die chinesische Politik für die Entwicklung der Infrastruktur zentralisiert, während sie in Europa eher dezentralisiert ist. Daher ist die Entwicklung von Infrastrukturprojekten in China effizienter und recht schnell, was der Grund für die wahrscheinlich umfangreichsten Hochgeschwindigkeitsnetze ist. Die Höchstgeschwindigkeit von Zügen in China beträgt bis zu 350 km/h, und obwohl es sowohl in Italien als auch in Deutschland ähnliche Hochgeschwindigkeitskonzepte gibt, gibt es dennoch Unterschiede in der Entwicklung.
D: Haben Sie schon einige Kolleg:innen der Fakultät kennengelernt? Vielleicht auch in interdisziplinären Bereichen?
Ich verbrachte drei Monate in Dresden und teilte mein Büro mit einem deutschen Kollegen, der demselben Lehrstuhl angehört. Das war sehr nett und er hat mir während meines Aufenthalts sehr geholfen.
Außerdem hatte ich die Möglichkeit, mich mit anderen Kollegen aus der Fakultät zu unterhalten und wir hatten einige Seminare. Ich hatte auch ein Treffen mit Kollegen aus verschiedenen Abteilungen der TU Dresden. Die wichtigsten Themen unserer Diskussionen waren natürlich auf meine Forschungsthemen beschränkt. Ziel war es herauszufinden, ob wir gemeinsame Interessen haben und eine Zusammenarbeit für die zukünftige Forschung aufbauen können.
D: Sie geben auch Seminare und Workshops an der Fakultät. Was sind die Themen und was können die Studierenden von Ihnen erwarten?
L: Ich werde einige Workshops für Studierende geben, die Teil eines Kurses über Fahrwerke sind. Ich werde einige Themen über die besondere Dynamik von Schienenfahrzeugen und die Wechselwirkungen zwischen Gleisen behandeln. Unser Ziel ist es, dass die Studierenden praktische Fähigkeiten für die Simulation und Modellierung von Fahrzeugsystemen, Bahnkontakt und Aufhängung erlangen. Ich hoffe, dass die Studierenden durch die Softwaredemonstration und die praktischen Beispiele in der Lage sein werden, ihre eigenen Modelle zu erstellen und Simulationen für bestimmte Fahrzeugtypen durchzuführen und praktische Probleme zu lösen, die ihnen für ihre Zukunft helfen werden.
D: Hatten Sie bereits die Möglichkeit, Dresden oder die Umgebung zu erkunden? Was ist Ihnen besonders aufgefallen?
L: Ich hatte nicht so viel Zeit, um alles zu entdecken. Aber ich hatte die Gelegenheit, das Verkehrsmuseum zu besuchen, wo sowohl die moderne Eisenbahn als auch die Eisenbahngeschichte Teil der Ausstellung sind, was mir sehr gefallen hat. Ich bekam auch einen ersten Eindruck von der Altstadt mit ihren historischen Gebäuden, was ebenfalls sehr beeindruckend war. Ich habe es auch genossen, im Großen Garten mit seiner schönen Natur herumzulaufen. Leider war die Parkeisenbahn während der Wintersaison geschlossen, aber ich freue mich schon darauf, sie bei meinem zweiten Besuch im Juli bis September zu besuchen.
D: Konnten Sie bereits typische deutsche Gerichte oder Getränke probieren?
L: Ich war oft mit meinen Kolleg:innen in der Mensa der TU Dresden. Ich weiß nicht, ob das Essen, das in der Mensa angeboten wird, typisch für Deutschland ist, aber ich mochte zum Beispiel das Schnitzel oder die Bratwurst. Interessant war auch, dass einige Gerichte, wie z.B. die Klöße, in Form und Geschmack denen aus meiner Heimat Nordchina sehr ähnlich waren. Und natürlich ist das deutsche Bier sehr berühmt und ich mag die meisten der hier angebotenen Biere.
D: Worauf freuen Sie sich, abgesehen von Ihren beruflichen Aufgaben, besonders?
L: Wie ich bereits erwähnt habe, hatte ich trotz meines dreimonatigen Aufenthalts in Dresden nicht die Gelegenheit, die Region zu erkunden. Ich hoffe, dass ich bei meinem zweiten Aufenthalt in Dresden mehr Zeit haben werde, um die Kultur und das öffentliche Leben zu genießen. Ich habe von vielen Veranstaltungen, wie Festivals, in dieser Gegend gehört, die ich unbedingt kennenlernen möchte. Außerdem freue ich mich darauf, mehr Menschen kennenzulernen, wie z. B. die Bürger der Stadt neue Kolleg:innen, und Studierende.
Wir bedanken uns noch einmal bei Dr. Binbin Liu für das Gespräch und wünschen ihm für die Zukunft alles Gute.
Originalautor
Kontakt
Dr. Binbin Liu
E-Mail: binbin.liu@polimi.it
Über Binbin Liu´s Forschung
Dr. Liu konzentriert sich in seiner Forschung hauptsächlich auf die Dynamik von Schienenfahrzeugsystemen sowie die Kontaktmechanik und aktive Steuerung von Schienenfahrzeugen. Dr. Liu hat bisher drei Projekte von internationalen industriellen Förderorganisationen und Horizon 2020-Projekte erhalten. Er war auch an wissenschaftlichen Forschungsprojekten mit internationalen Universitäten und Unternehmen beteiligt, wie der University of Salford und der University of Sheffield, Großbritannien, der Technischen Universität Warschau, Polen, der Polytechnischen Universität Valencia, Spanien, und Vtech CMCC in den Niederlanden. Dr. Liu ist außerdem Mitglied der International Association for Vehicle System Dynamics und Partner der Zeitschrift Vehicle System Dynamics.